Autor: Hans Günter Golinski
Bernard Schultze
Auch Bernard Schultze erfährt die für seine Generation typische künstlerische Enkulturation, die die Stationen der spätmittelalterlichen und romantischen Geistes- und Bildwelt durchläuft, die durch die Entdeckung der Bildnerei von Kindern, Geisteskranken und Primitiven individuelle Gestaltungsmöglichkeiten legitimiert und durch die Theorie und Methoden der Selbstfindung des Surrealismus geprägt ist. Dabei bleibt er stärker als andere informelle Maler dem romantischen Denken und Empfinden verhaftet, das sich vor allem inhaltlich definiert. Der Romantiker erzählt, er benennt und umschreibt Stimmungen; erstmals ruht die bildende Kunst auf einem ideologischen Unterbau. Für Schultze eröffnet das Informel mit seiner Thematisierung der Nicht-Form oder Noch-Nicht-Form, der Form im Werden, die Möglichkeit, Noch-Nicht-Abbilder und Erzählungen im Werden zu malen.
Wie mühsam er sich von ausformulierten Bildthemen befreit, belegen seine hilfesuchenden Abstecher, so bei Ensor und Brauner, Miró, Nay und vor allem bei Masson. Seine Vorstellung, sich inhaltlich und formal disziplinieren zu müssen, zeigen die akademisch-konstruktivistischen Kompositionen der späten 40er und frühen 50er Jahre. Letztlich findet Schultze den Schlüssel zu wirkend offenen Bildern in der chaotisch wirkenden Malerei des in Paris lebenden Kanadiers Jean-Paul Riopelle: "Diese unglaubliche Brillanz, die Nuancierung der Farben, völlig frei und vital gemalt, da dachte ich, das ist es eigentlich. Vorher war ich so ein bißchen von Ritschl beeinflußt, surrealistisch durch Egon Günther - gegenständlicher Surrealismus zur Wiederaufarbeitung der Situation - aber ... das befriedigte mich alles nicht, ich mußte frei werden, ich mußte was machen. Und da war Riopelle der Start für mich, und dann ging es los, ... da fing ich dann an, informel zu malen." Bezeichnenderweise hat er sein malerisches Schlüsselerlebnis bei einem Gegenpol seiner selbst, bei einem anti-literarisch gestimmten, 'nur' malenden Maler.
Um so eher kann man Bernard Schultze einen informellen Romantiker nennen, als er sich im Unterschied zu seinen Weggefährten nicht vom kursierenden Gedankengut einer Zen-Ästhetik beeinflussen läßt; dem Ideal eines unendlichen Nichts der weißen Leinwand steht sein Horror vacui gegenüber, geprägt von der altdeutschen Malerei. Der meditativen Einkehr des Individuums in eine höhere Einheit und Harmonie allen Seins, wo jede Individualität erlischt, stellt Schultze die freie und gelenkte Assoziation gegenüber, das dicht geknüpfte Netz von Vorstellungen und Gefühlen, das - methodisch genutzt - Unbewußtes ans Licht zieht und der Selbstfindung dient. "Ich fange an, Assoziation erzeugt Assoziation ... Ich kann nicht meditieren, dann schlafe ich ein."
Durch das schichtende Malen von Einzelbildern, durch das Übermalen, schafft er einen totalen 'psycho-physischen Organismus', "die vollkommene Konstellation der Dinge, der Linien, der Form, der Farben. ... Durch die Folge von Schichten entsteht ein sehr kompliziertes System der Überlappungen. Die Assoziationen beim Malenden, wie beim Beschauer, vervielfachen sich, Relikte, Übermalungen, Lasuren, eine Unzahl von Nuancen, kurzum Spuren mannigfacher Bemühungen kennzeichnen eine derartig behandelte Fläche. Das Bild wird vollgliedrig, reich, kann kostbar werden, aber ohne die Absicht, derart beschaffen im Endergebnis zu sein." Die informelle Malerei ermöglicht ihm infinite Assoziationen, die metamorphe Gestalt annehmen und zusehends aus seinen labyrinthhaften Bildräumen in den realen Raum drängen. Schließlich löst sich seit 1962 sein Phantasiegebilde Migof, ein Zwitterwesen aus Malerei und Skulptur, vollkommen vom Bildträger und führt als vieldeutige Farbplastik ein Eigenleben.
(Dieser Text wurde veröffentlicht in: Ferdinand Ullrich (Hrsg.): Kunst des Westens. Deutsche Kunst 1945 - 1960. Kunstausstellung der Ruhrfestspiele Recklinghausen 1996, Ausstellungskatalog Kunsthalle Recklinghausen, Köln: Wienand, 1996, S. 202)